Festrede
17 May 2019
ERC Präsident Prof. Dr. Jean-Pierre Bourguignon, Darmstadt, Deutschland
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Sehr geehrte Frau Staatsministerin Angela DORN,
Sehr geehrte Landtagsabgeordnete,
Sehr geehrte Präsidentinnen und Präsidenten der Hochschulen und Direktoren der Forschungseinrichtungen,
Sehr geehrter Herr Dr. KISTENICH-ZERFASS,
Sehr geehrte ERC Grantees und Preisträger des Leibniz-Preises,
Meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

Ich danke Frau Staatsministerin DORN für Ihre ermutigenden und freundlichen Worte.

Es ist natürlich ein Vergnügen, und auch eine Ehre, für mich hier in Darmstadt die Möglichkeit zu haben, etwas über den ERC zu sagen, sowohl über Leistungen als auch Perspektiven. Für Wissenschaftler wie mich hat Deutschland eine ganz besondere Bedeutung wegen seine bemerkenswerten Politik zur Unterstützung der Wissenschaft und der Forschung.

Viele deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben einen bedeutenden Beitrag zum Aufbau des ERCs geleistet: Herr Professor Dr. Hans-Joachim FREUND und die Nobel Preisträgerin Professor Dr. Christiane NÜSSLEIN-VOLHARD waren Mitglieder des ersten wissenschaftlichen Rates des ERCs. Herr Professor Dr. Ernst-Ludwig WINNACKER war der erste Generalsekretär, und in dieser kritischen Funktion war sein Beitrag zum richtigen Aufbau des ERCs sehr bedeutend. Ich weiß, dass sein Herz noch sehr für den ERC schlägt. Ich möchte auch erwähnen, dass heute zwei deutsche Wissenschaftler, Professor Dr. Michael KRAMER und Professor Dr. Kurt MEHLHORN, sehr aktive Mitglieder des wissenschaftlichen Rates sind.

Nach 12 Jahren ist es sicher Zeit einen Blick auf die vergangenen Jahre zu werfen, um richtig zu verstehen, was die Gründe für den Erfolg des ERCs sind.

Heute haben mehr als 9000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen ERC Grant gewonnen, in Deutschland fast 1400 und in Hessen fast 80! Das bedeutet, dass sie die Möglichkeit haben, ihre Forschung unter den besten Bedingungen zu entwickeln. Es ist etwas dass ich regelmäßig höre, wenn ich ERC Grantees treffe und ich treffe viele in verschiedenen europäischen Ländern. Es bedeutet auch, wenn man einen mehr finanzpolitischen Standpunkt einnimmt, dass fast 3 Milliarden Euro an EU Geldern dank des ERCs zurück nach Deutschland geflossen sind.

Deutschland ist auch ein Land, wo die Regierung eine große Bedeutung der Forschungsförderung gibt. Sie hat eine langfristig orientierte Tradition, die in den letzten Jahren noch verstärkt wurde. Heute werden in Deutschland 3% des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Es war das erklärte Ziel für das Jahr 2020 von allen europäischen Ländern, aber leider werden nicht so viele Länder es erreichen. Mehrere sind davon noch sehr weit weg. Ich hörte, dass in den letzten Wochen eine Erweiterung dieses starken Engagements für die kommenden 10 Jahren von Bundesländern und dem Bund genehmigt wurde. Das ist eine wunderbare Nachricht! Diese nationale Maßnahme läuft natürlich parallel zu dem Engagement der deutschen Regierung für das EU Rahmenforschungsprogramm und für den ERC im Besonderen. Wenn ich etwas später über diese Zukunft spreche, werde ich natürlich auch einen Appell für eine Ergänzung dieser Unterstützung machen.

Bei der Eröffnung des ERCs, im Jahre 2007 (in dieser Zeit hielt Deutschland die EU Präsidentschaft) gab Frau Bundeskanzlerin MERKEL in ihrer Rede ein hohes Ziel für den ERC vor, „die Champions League für Forschung zu werden“. Es gibt viele Zeichen (als Mathematiker würde ich Beweise sagen), dass dieses Ziel erreicht wurde. Der ERC erscheint als ein prominentes Beispiel der Fähigkeit Europas, Mehrwert zu bringen. Natürlich müssen wir, und im besonderem so kurz vor den Wahlen für das Europäische Parlament diesen Wert, den wir immer im europäischen Zusammenhang als Leitfaden benutzen müssen, diese Fähigkeit sichtbar zu machen. Frau Bundeskanzlerin unterstrich auch zwei Bedingungen für den Erfolg, „Autonomie und Freiheit“. Wir können heute in der Tat sagen, dass beide essentiell für die erfolgreiche Entwicklung des ERCs waren und umgesetzt wurden. Wir brauchen beide weiterhin, und dafür setzt sich der wissenschaftliche Rat des ERCs ein! Ohne sie würde der Aufbau der Vertrauenswürdigkeit seitens der Wissenschaftsgemeinschaft unmöglich. Ohne Vertrauen würde es auch unmöglich, so viele der besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Gutachterinnen und Gutachter für den ERC zu gewinnen. Und das ist genau was die Qualität des Programms gewährleistet.

Als Wissenschaftler scheint mir Europa ein offensichtlicher Rahmen für die Entwicklung der Zusammenarbeit und der Mobilität zu sein. Der internationale Wettbewerb macht es unvermeidbar, dass wir enger zusammenarbeiten müssen. China und mehrere asiatische Länder lassen uns keine andere Wahl. Wir alle wissen, dass Wissenschaft keine Grenzen kennt, aber der Wettbewerb ist noch härter geworden. Es ist vielleicht ein guter Moment, um das Motto des ERCs „Weltoffenheit“ zu unterstreichen. ERC Grantees tragen fast 80 Nationalitäten, und ein Drittel der Mitglieder der ERC Teams sind keine Europäer. Es zeigt, dass eine der Ziele des ERCs, nämlich Europa attraktiver zu machen, erreicht wurde. Und natürlich für die Zukunft muss es so bleiben und vielleicht muss noch mehr in diese Richtung gemacht werden.

Ganz wesentlich für mich ist die fantastische Diversität der Projekte, die von ERC Grantees vorgeschlagen und erfolgreich entwickelt wurden und werden. Ganz wichtig auch ist die Fähigkeit Risiken einzugehen. Der ERC nimmt sich das Motto „High Risk/High Gain“ sehr zu Herzen. Und zu oft ist die akademische Gemeinschaft konservativ. Man muss oft etwas Druck in diese Richtung ausüben. Das hat natürlich mit der vom ERC wissenschaftlichen Rat richtig getroffenen Entscheidung zu tun, sich auf „Frontier Research“ „Grenzforschung“ zu konzentrieren. Es bedeutet auch, dass es nicht geeignet ist, a priori Kategorien als „grundsätzlich“ oder „angewandt“ einzuführen. Wenn ich ERC Grantees besuche, kann ich so oft sehen, dass neue Begriffe und Erkenntnisse oder neue Instrumente zu völlig unerwarteten Anwendungen führen, aber auch zu Antworten und Lösungen auf gesellschaftliche Herausforderungen, die im Vorfeld nicht viel mit dem Thema der Forschung zu tun haben. Es bedeutet insbesondere, dass alle Fachbereiche weiter beim ERC betrachtet und gefördert werden sollten, von Natur- und Ingenieur-wissenschaften (inklusive Mathematik und Informatik) zu Lebenswissenschaften und Sozial- und Geisteswissenschaften. Ein starkes Zeichen dafür, und ein Beweis, dass das Image von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als in einem Elfenbeinturm lebende Spezie ungeeignet ist, kann mit folgenden Daten belegt werden: sowohl im siebtem Rahmenforschungsprogramm als auch in Horizont 2020 ist der Beitrag zu IPR von ERC Grantees viel grösser als der Anteil des ERC am Gesamtbudgets (29% gegenüber 17% Budgetanteil in FP7 und noch höher in Horizont 2020).

Forschung ist in der Realität ein Ökosystem. Für den ERC, der heute nur 1% des gesamten Budgets für Forschung und Innovation in Europa darstellt, bedeutet es sicher, dass er allein nicht alle Probleme lösen kann. Um Europa stärker zu machen, müssen alle Komponenten des Systems geprüft und verbessert werden, und einige sind nicht in den Händen der Europäischen Kommission oder des ERC: Karriereperspektiven für junge Leute, eine willkommene Atmosphäre für mobile Wissenschaftler, hervorragende Infrastrukturen, usw.

Wenn man die zukünftigen Perspektiven betrachtet, wird es Sie nicht erstaunen, dass es mich zufrieden stimmt, dass die aktuelle partielle Einigung zum nächsten Rahmenprogramm Horizont Europa vorsieht, dass der ERC fast ohne Änderung weiterlaufen soll. Kontinuität war die erste Forderung der sogenannten „Padua Deklaration“ des wissenschaftlichen Rates des ERC. Man kann ein bisschen überrascht sein, dass eine solche Entscheidung nicht evident würde. Es gab Versuche, das Prinzip der wissenschaftlichen Qualität als einziges Auswahlkriterium der ERC Projekte mit anderen Kriterien zu schwächen. Wir wissen, dass es das Programm sehr schnell verderben würde.

Der zweite Punkt der Padua Deklaration war mehr Agilität und Flexibilität für den ERC zu gewinnen, um sich den Wandlungen der wissenschaftlichen Landschaft anzupassen. Wir alle wissen, dass zum Beispiel viel an den Grenzen der Disziplinen passiert und mehr Aufmerksamkeit der Pluridisziplinarität gewidmet werden sollte. Das war der Grund für die Entscheidung des ERC wissenschaftlichen Rates, das Synergy Programm wiedereinzuführen.

Der dritte Punkt ist keine Überraschung: um ERC noch wirksamer zu machen, braucht er ein größeres Budget in dem nächsten Rahmenforschungsprogramm. Schon heute gibt es jedes Jahr fast 500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die als völlig exzellent in der Evaluation eingeschätzt werden, und, die aus Budgetgründen nicht finanziert werden können. Man braucht auch Raum, um vielleicht noch innovativere Ausschreibungen zu machen.

Die verschiedenen und unerwarteten Wege, die Forschung nehmen kann, müssen wir immer im Kopf haben, wenn wir Pläne für die Zukunft schaffen. Der Erfolg der ERCs beweist, dass die Bottom-up Methode, wenn sie mit einer hoch qualifizierten Evaluation gekoppelt ist, sehr erfolgreich wirkt. Wenn die Initiative den Forscherinnen und Forschern überlassen wird, und wenn sie gefordert werden, ehrgeiziger zu sein, entdeckt man, dass oft unerwartete Beiträge und Lösungen zu gesellschaftlichen Herausforderungen geschehen. Ich sprach schon vom erstaunlichen Erfolg der ERC Grantees bei Patentanträgen. Und natürlich wurden nie Patentanmeldungen als Ziel für ERC Verträge vorgeschlagen. Es zeigt, dass die Initiative den Forscherinnen und Forschern zu überlassen, eine erfolgreiche Strategie ist, auch um Ziele zu erreichen, die eine nicht so evidente Verbindung mit dem ERC haben. Hier ist, glaube ich, eine interessante Lektion, die zeigt, wie kritisch das Vertrauen in Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist, wenn sie ihre eigenen Grenzen richtig überschreiten.

Eine klare Priorität des ERC wissenschaftlichen Rates war und ist es, junge Forscherinnen und Forscher zu unterstützen: 2/3 der ERC Grantees sind in der Tat jünger als 40 Jahre. Die Verträge, die mit ihrer Institution von der ERC Exekutivagentur, die dem ERC praktisch und effizient dient, unterzeichnet werden, geben den ERC Grantees viel Macht. Dies ist sicher ein bedeutender Beitrag des ERCs zum Aufbau der nächsten Generation von Wissenschaftsexperten in Europa.

Hier ist es vielleicht angemessen, noch einmal eine besondere Maßnahme, die vom wissenschaftlichen Rat des ERC getroffen wurde, wieder ans Licht zu bringen: Frauen, die Kinder erziehen, sehen die obere Altersgrenze für die Antragsstellung in den ERC Kategorien „Starting“ und „Consolidator“ Grant um 18 Monate pro Kind verschoben. Das gilt auch natürlich für Männer, die von ihrem Arbeitsplatz für eine Zeit lang Abstand nehmen. Diese Maßnahme wirkt richtig, d.h. Leute, die davon profitieren sollten, haben eine ähnliche Erfolgsquote als die anderen Kandidaten.

Vielleicht noch wichtiger für eine langfristig erfolgreiche Zukunft Europas in dem heute sehr intensiv gewordenen internationalen Wettbewerb um Experten ist die Rolle des ERCs in der Ankurbelung von Reformen im Forschungsbereich. In der Tat haben viele Länder entschieden, ihre nationale Struktur für das Forschungsökosystem zu reformieren, und oft haben sie den ERC als Model genommen.

Ich kann diese Rede nicht schließen, ohne explizit zu erwähnen, dass der Einfluss des ERCs auf die Entwicklung der Forschung von der Industrie als extrem positiv anerkannt wird. Ein Beweis dafür ist die gemeinsame Deklaration von 44 CEOs von großen Firmen und 24 Trägerinnen und Träger von internationalen Preisen, die in November 2018 veröffentlicht wurde, Frau Bundeskanzlerin Merkel persönlich in die Hand gegeben wurde und an alle Staats- und Regierungschefs per Post geschickt wurde. Sie fordern eine bedeutende Erhöhung der finanziellen Ausstattung des EU Forschungs- und Innovationsprogramms.

Ganz zum Schluss möchte ich mich bei allen Leuten, von der politischen Führungsriege in Brüssel insbesondere bei Kommissar Carlos MOEDAS als auch in den EU Mitgliedsländern und insbesondere in Deutschland bedanken und natürlich auch ganz herzlich bei allen akademischen Kolleginnen und Kollegen, für das wunderbare Abenteuer, das ERC geworden ist, bedanken. Sehr viele Leute haben sich darum bemüht. Aber was getan wurde ist kaum zu glauben. Es ergibt ein echtes Beispiel der wunderbaren Bedeutung Europas, was Forschung betrifft. Wir müssen auf diesem Erfolg aufbauen. Diese Perspektive sollte die Basis für ein ehrgeiziges Budget für Horizont Europa sein, in dem der ERC eine noch wichtigere Rolle spielen sollte. Daran müssen wir alle arbeiten! Es ist noch nicht klar wann das EU Budget entschieden wird: vielleicht schon in der zweiten Hälfte von 2019 unter der finnischen Präsidentschaft, oder in der ersten Hälfte von 2020 unter der kroatischen Präsidentschaft, und allerdings spätestens in der zweiten Hälfte von 2020 unter der deutschen Präsidentschaft. Das ist genau was einige Staaten schon als Ziel vor Augen haben.

Wir müssen ein noch erfolgreicheres Kapitel des ERCs aufschlagen, und dafür brauchen wir die breiteste Unterstützung. Der ERC möchte mit Ihnen gemeinsam höchste Ansprüche und Ziele erfüllen. Lassen Sie uns gemeinsam diesen Weg gehen, um die Zukunft der Wissenschaft und Innovation, die so kritisch für Europas Weiterentwicklung ist, zu sichern!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.